Während sich der allseits bekannte Fachkräftemangel weiter zuspitzt, besteht in der Schweiz noch ein anderes, oft übersehenes Problem: Zwar ist die Arbeitslosigkeit auf ein seit 10 Jahren nicht mehr dagewesenes Niveau gesunken. Und doch existiert eine Vielzahl an Personen, die arbeiten wollen aber nicht können.
Die Credit Suisse hat in einer am Dienstag publizierten Studie beleuchtet, wie gross der Anteil des unausgeschöpften Potenzials am Schweizer Arbeitsmarkt ist. Das Ergebnis: Mehr als 800‘000 Menschen könnten sich vorstellen zu arbeiten, können es aber nicht. Der grösste Anteil hieran sind Personen, die zwar arbeiten, gerne aber ihr Pensum erhöhen würden. Dicht folgen Erwerbslose, welche innerhalb von zwei Wochen bereit wären, eine neue Stelle anzutreten.
Von den über 200‘000 Personen, die nicht arbeiten, es aber grundsätzlich gerne tun würden, ist ein Grossteil älter als 58. Rund 80‘000 ältere Personen gaben an, an einer Erwerbstätigkeit interessiert zu sein. Gleichzeitig ist diese Gruppe von Personen aber auch der Überzeugung, wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Weiter erstaunt auch der Frauenanteil: Fast 60% der Personen, die gerne arbeiten würden, die Möglichkeit aber nicht haben, sind Frauen. Dies ist vor allem auf familiäre Verpflichtungen zurückzuführen. So sind oft die Betreuungsverhältnisse für Kinder zu teuer und zu unbefriedigend. Nichtsdestotrotz sind vier von fünf Schweizer Müttern berufstätig – oft in geringen Pensen.
Der Anteil von älteren Personen und von Frauen an der Gruppe der wider Möglichkeiten gerne Erwerbstätigen ist über die Jahre stabil geblieben. Es braucht weitere Möglichkeiten, um berufliche und familiäre Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Auch Anreize, die das Arbeiten nach Pensionierung unattraktiv machen, gilt es zu beseitigen. So könnte unter anderem auch dem alten Problem des Fachkräftemangels entgegengewirkt werden.
19 Antworten zu «Ungenutztes Personal: 800’000 Schweizer wollen arbeiten, aber können nicht»
Von wegen Überbrückungsrente ab 57…das Problem beginnt schon mit 45…ich, (Jahrgang 1971), Betriebsökonom FH, Fachrichtung Rechnungswesen & Controlling war jahrelang in der Finanz- und IT-Services-Industrie tätig, spreche fließend vier Sprachen. Bin dann wiederholt „Opfer“ von Reorganisationen und Umstrukturierungen bzw. Fusionen geworden. Als ich bei der Winterthur angefangen habe (die gehörte damals noch der Credit Suisse), wurden wir drei Wochen nach meinem ersten Arbeitstag informiert, dass wir an die AXA verkauft wurden. Meine Abteilung aufgelöst. Ich habe mich trotzdem immer wieder aufgerafft und mich immer flexibel gezeigt. 2014 wurde ich das erste Mal für längere Zeit arbeitslos (bis zur Aussteuerung). Zum Glück gibt es im Kanton Schaffhausen Anschlusstaggelder (150 zusätzliche Taggelder zu 90% des letzten Taggeldes wobei nach oben gedeckelt.) Zwischendurch hatte ich mal ein Engagement als Freelancer mit vollmundigen Versprechen, man wünsche sich ein langfristiges Engagement, bis die Zurich unter ihrem neuen CEO, der von der Generali kam, beschlossen hat, den Großteil der Externen raus zu schmeißen. Danach erneut arbeitslos, ausgesteuert, Anschlusstaggelder und auf den letzten Drücker eine Stelle gefunden. Die Firma hat 6 Monate lang Einarbeitungszuschüsse erhalten und mir einen Monat nach der „Schonfrist“ gekündigt. So geht es zu und her auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Die Entschädigungen für missbräuchliche Kündigungen sind ein Witz. Die Gesetze sind von den Arbeitgebern für Arbeitgeber gemacht. Wir Menschen nur Spielbälle und Manipuliermasse. Ich war nie ein „Linker“ (Major in der Schweizer Armee mit über 800 Diensttagen). Auch jetzt gebe ich noch nicht ganz auf. Habe auf eigene Kosten eine Weiterbildung zum Treuhänder angefangen und suche den Einstieg ins Treuhandwesen. RAV und SVA bezahlen zwar irgendwelche Coachings und 2-3 tägige Ausbildungen, aber nichts was wirklich etwas bringt. Die Taggelder wurden reduziert, die ALV saniert, die Menschen werden in die Sozialhilfe gedränkt. „Bedingungsloses“ Grundeinkommen wäre eine Lösung. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ab sofort wähle ich nur noch SP oder Grün – so viel ist klar.
Als Ausländerin, die in der Schweiz lebt, bin ich von Wahlen ausgeschlossen. Auch in der Gemeinde, in der ich Wohne und Steuern bezahle.
Seit meinem 17. Lebensjahr habe ich ohne Pause gearbeitet. Nach über 15 Jahren am Bankschalter, sagte mir mein neuer Vorgesetzter, dass ich für diese Arbeit nicht geeignet wäre. Die Chefs davor hatten mich seltsamerweise immer gelobt. Es brauchte ein Burnout und viele Gespräche mit Anwälten und Psychologen, um mir klar zu machen, dass das Problem nicht bei mir lag, sondern bei der neuen Strategie der Bank, die nicht umfassend kommuniziert wurde. Weil Teil der neuen Strategie war eine Verjüngungskur. Und natürlich an den notwendigen Sparmassnahmen nach der Finanzkriese. Die SVA meinte ich solle den Job kündigen, dann ginge es mir besser. Ich war da schon 57 Jahre alt. Also nicht ganz so einfach, die Stelle zu Kündigen. Andere rieten mir, der Gesundheit zuliebe, zu gehen. Das widersprach meinem Rechtsempfinden. So viele Jahre hatte ich mich engagiert, mein Herzblut gegeben. Und nun wurde ich einfach isoliert und rausgeekelt. Ich stand unter enormem Druck, durfte keine Fehler machen, um keinen Angriffspunk für eine Kündigung zu bieten. Dank hoher Zielvorgaben und gnadenloser Kontrolle, kann natürlich jedem gekündigt werden. Das Arbeitsgesetz mit der Fürsorgepflicht für die Gesundheit der Mitarbeiter, wird so ausgelegt, dass es für den Arbeitgeber passt. Jahrzehnte Arbeit mit Laserdruckern Toner-Ausstoss in 20-30 cm Abstand zum Kopf/Nase. Ergonomie ist ein Fremdwort. Ich hatte jahrelang Rückenprobleme, chronische Verspannungen und Atemprobleme mit Auswurf. Keine Therapie half. Doch die PDAG, SVA und RAV rieten mir so lange wie möglich am Job festzuhalten. Wobei das jüngere Mitarbeiter/innen max. 2 Jahre aushalten.
Jetzt mache ich zusätzlich, zu den Schulungen des RAV, eine Weiterbildung, obwohl es keine Garantie gibt, dass ich danach bessere Chancen habe. Wenigstens ist das gut für meine Psyche.
Ich bewerbe mich nur auf Stellen, die meinem Profil entsprechen, bekomme aber trotzdem nur Absagen. In 1,5 Jahren und über 250 Bewerbungen, nicht mal ein Vorstellungsgespräch.
Was nach Ablauf des RAV passiert, steht in den Sternen.
Nach 40 Jahren Arbeit mit 100% Pensum, bin ich zum ersten Mal in meinem Leben arbeitslos.
Das allein ist schon schwer. Aus den Statistiken herauszufallen, wenn das RAV ausläuft, empfinde ich als Menschenverachtend. Man wird sprichwörtlich unter den Tisch gekehrt.
Was macht die Politik?
Liebe Walburga
Du steckst in einer sehr schwierigen Situation. Einerseits ein Berufsleben, welches dich psychisch unglücklich und krank macht, andererseits die drohende Arbeitslosigkeit.
Ich kann dir in dieser Situation keinen konkreten Rat geben, wünsche dir jedoch viel Kraft, um die Situation gut zu überstehen.
Beste Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Die Schweiz, ein Land in dem wir gut und gerne leben.. So würde der Spruch lauten, wenn wir wie in DE regiert würden..
Aber bei uns ist es ja noch schlimmer.. Arbeitgeber nutzen unser demokratisch lasches System unfair und unverhältnismässig aus. Fachkräftemangel existiert genauso wenig wie die Sonne am Nachthimmel.. Ebenso braucht es auch die PFZ nicht.
Die unveröffentlichte Arbeitslosigkeit in der Schweiz der Ausgesteuerten fängt schon viel früher an.. d.h. schon ab dem Alter von 34 Jahren! Und fehlt dadurch dann der nahtlose berufliche Werdegang oder ist dieser unterbrochen und kein roter Faden, ist man heute «NICHTS» mehr wert!
Also jeder Arbeitgeber, der ehrliche und wohlwollende Ziele für sich und seine Firma ableiten und dadurch auch in Zukunft an Akzeptanz gewinnen will, täte gut daran schon jetzt in ungenutztes Potenzial/Personal zu investieren. Wer in bisherige erfolgsverwöhnte Gewinner investiert, wird mit diesen eher verlieren. Und umgekehrt..
.. werden die heutigen Verlierer, die Gewinner von Morgen sein!
Lieber Claudio
Besten Dank für deinen Input.
Sicherlich lässt sich über Sinn oder Unsinn der Begriffe «arbeitslos» und «ausgesteuert» streiten oder zumindest lange diskutieren. Dennoch sei darauf hinzuweisen, dass die Studie als Grundgesamtheit sämtliche Personen in der Schweiz im erwerbsfähigen Alter nimmt. Dementsprechend existiert zumindest bei diesen Zahlen keine Abgrenzung von arbeitslosen zu ausgesteuerten Personen.
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Mit 60 habe ich mich beim Kinderspital Zürich als IT-Leiter mit ETH-Abschluss beworben. Ich wurde abgelehnt mit der Begründung, man wolle nicht einen 60-Jährigen, der schon in 5 Jahren wieder gehe.
Es wird zuerst auf das Alter geschaut, erst danach kommen Sozialkompetenz, fachliches Wissen und Erfahrungen. Dies insbesondere und vermehrt auch bei öffentlichen Unternehmen!
Wird dann von Erhöhung des Rentenalters gesprochen, heisst das für die meisten wohl Rentenkürzung, weil sie dann trotzdem nicht länger arbeiten können.
Man spricht von Fachkräftemangel, will Menschen aber allein wegen Ihres Alters nicht anstellen. Ist doch schizophren!
Da sollte sich jeder überlegen, dass auch er älter wird und wegen seines Alters arbeitslos werden könnte.
Guten Tag Herr Eichenberger
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar.
Es ist unbestritten, dass das Alter ein wichtiges Kriterium im Bewerbungsprozess ist.
Dennoch hoffe ich, dass Sie sich durch diesen Rückschlag nicht entmutigen lassen und weiterhin aktiv auf Stellensuche sind.
Beste Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Sehr geehrte Damen und Herren
Die Arbeitslosenzahlen stimmen nicht mit den effektiven Zahlen der Menschen ohne Arbeit überein. Als Arbeitsloser gilt wer bei der Arbeitslosenkasse gemeldet ist und Leistungen bezieht. Ist Derjenige in einem Arbeitslosen-Projekt gilt er nicht mehr als arbeitslos. Wer nach Bezug seiner Arbeitslosentaggelder keine Stelle gefunden hat und allenfalls Sozialhilfe bezieht, gilt statistisch gesehen auch nicht als arbeitslos. Die Arbeitslosenquote entspricht nicht der Realität. Diese sieht ganz anders aus, aber wer will schon genau hinschauen. Das könnte am Image der Schweiz etwas kratzen.
Hallo Ingeborg
Das stimmt schon, was Sie sagen. Aber in diesen 800’000 Personen, die arbeiten wollen, es aber nicht können sind ja auch solche enthalten, die Teilzeit arbeiten. Von dem her ist diese Zahl sowieso nicht identisch mit der Arbeitslosenstatistik (die aber natürlich bloss eine Annäherung an die Anzahl Personen darstellt, die nicht arbeiten, wie Sie richtig sagen).
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Julian muss ich leider widersprechen. Es ist nicht das Verlangen nach Akademiker, sondern das Alter. Die Wirtschaft will keine ältere Mitarbeiter. (Ich kann es bestätigen: zwei Studienabschlüsse, internationale Erfahrung, mobil und seit zwei Jahren arbeitsuchend. Alter: 57.) Daraus folgt ein Problem das gesellschaftlich gelöst werden muss. Doch keine Partei wagt sich an das Thema. Warum?
Hallo Rainer
Über die Altersdiskriminierung bei Jobinseraten habe ich einen Beitrag geschrieben, den du hier lesen kannst. Sie haben also definitiv Recht, dass ältere Personen weniger Chancen haben bei ausgeschriebenen Stellen. Aber ich denke, es gibt verschiedene Faktoren, die man beachten muss beim Thema des «Mangels an Fachkräften», oder denken Sie nicht?
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Sehr geehrte Damen und Herren
Ja, ich habe diese Erfahrung auch machen müssen. Ich habe durch schlimme Umstände den Job verloren und das mit 53 Jahren. Habe schon x- Bewerbungen gemacht – und es hat sehr viel Stellen auf dem Markt. Auch bereits einige Vorstellungsgespräche gehabt. Dann wurden die Stellen entweder «eingefroren» oder intern besetzt – und das von einem auf den anderen Tag!?! Leider hat sich unsere Arbeitswelt extrem geändert. Ich war noch NIE arbeitslos. Sehr häufig erhält man keine Antwort auf eine Bewerbung – fast normal, oder es sind Stellen bereits mit einer «Alterslimite» ausgeschrieben – das ist schon sehr diskriminierend. Dabei sollten wir, wenn es nach der Rentenkasse geht fast bis 70 arbeiten, aber ab 45 will uns keiner mehr. Was ist mit unserer Welt nur los. Wir haben Erfahrung, sind noch sehr fit, und würden sicher noch 8-12 Jahre an einer Stelle bleiben, nicht wie oft die «jungen» nach 2 Jahren wieder gehen. Wir wissen noch was arbeiten heisst! Die ganzen Temporär-Stellen sind für mich extrem schwierig – > man bringt Know-how, nach einem 1/2 Jahr, wenn man grad mal eingearbeitet ist, darf man wieder gehen. Aber die Firmen haben ja einen besseren Status auf einer Excel Statistik und es ist für sie nicht so teuer. Wo soll das noch hinführen?
Hallo Anette.
Über die Altersdiskriminierung bei Stelleninseraten habe ich hier einen Beitrag geschrieben. In der Studie des SECO wird klar, dass ca. 10% aller Stelleninserate der Schweiz eine Alterslimite beinhalten. Nichtsdestotrotz findet natürlich auch sonst eine Altersdiskriminierung bei Auswahlkriterien etc. statt.
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Der sogenannte Fachkräftemangel dient dazu, dass Arbeitgeber teure Schweizer ablehnen können und dafür günstigere Fachkräfte aus dem Ausland anzustellen (obwohl die Ausbildung vergleichbar ist). Darüber wird leider kaum gesprochen, weil wir naiven Schweizer denken, die Arbeitgeber seien ehrlich. Als Headhunter konnte ich das aus der ersten Reihe beobachten.
Sehr geehrter Herr Anderegg
Mit der bald in Kraft tretenden Stellenmeldepflicht, über die wir hier einen Beitrag geschrieben haben, wird versucht, Personen, die beim RAV gemeldet sind, Vorrang gegenüber anderen Arbeitskräften zu ermöglichen. Vielleicht wird diese Methode hier etwas ändern können?
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Fachkräftemangel spitzt sich zu, aber nur weil die Fachkraft in den meisten Fällen als überqualifiziert, für das gebotene Gehalt, nicht eingestellt wird. Es werden Billiglöhner mit möglichst guter Ausbildung gesucht. Als weiteres Kriterium ist die Mobilität zu beachten, der Schweizer Arbeitnehmer ist meistens stark regional verbunden.
Sehr geehrte/r Herr/Frau Cavalet
Das deckt sich mit der Einschätzung von Herrn Bühlmann – man will einen Arbeitnehmer, den es so gar nicht gibt. Der Rückgriff auf die vielen älteren Stellensuchenden wäre eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen.
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam
Solange viele der Unternehmen eine Eierlegende Wollmilchsau als Mitarbeiter wollen funktioniert das nicht. Oder anders gesagt, wenn die gewünschten Anforderungen nicht mit der Aus- oder Weiterbildung nicht zusammenpassen, können die vorhandenen Stellen nicht besetzt werden.
Sehr geehrter Herr Bühlmann
Tatsächlich ist ja auch der «Fachkräftemangel» u.a. darauf zurückzuführen, dass immer «akademisierteres» Personal verlangt wird und von Mitarbeitern teilweise Leistungen verlangt werden, die diese gar nicht liefern können.
Vielleicht bessert sich dieser Umstand mit der in ein paar Tagen in Kraft tretenden Stellenmeldepflicht, über die wir auch hier vor ein paar Wochen berichtet haben.
Freundliche Grüsse
Julian vom Redaktionsteam