Violette Bändel hängen an Treppengeländern, man hört Rufe und es laufen massenweise Frauen durch die Stadt Zürich. Manche sind mit Kind und Kinderwagen unterwegs, manche tragen T-Shirts mit Slogans drauf. Die Fahnen waren schon seit Tagen vor dem Streik ausverkauft und die Stände haben nur noch Flyer und Stadtpläne zu bieten, denn alle Pins, T-Shirts und Banner sind sie schon lange losgeworden.
Mein erstes Ziel ist die PH Zürich. Vor dem Gebäude hängen Plakate und Banner. Die Plakate zeigen Statisitiken zum Anteil der angestellten Frauen an der PH. Ein Lehrer spricht mich an: “Eigentlich verstehe ich nicht ganz, worum es hier geht. Den Frauen geht es doch gut, es ist schade, die natürlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau künstlich zu unterdrücken. Manche Frauen schämen sich schon, wenn Sie mit dem Kinderwagen unterwegs sind und nicht arbeiten, weil das unfeministisch sei. Ausserdem wehren sich die Frauen zu wenig – wenn sie zu Führungspositionen gelangen wollen, sollen sie doch danach streben, anstatt sich einfach zu beschweren.”
Aber darum geht es gar nicht. In der Schweiz gibt es im Vergleich zu anderen Ländern viel weniger Sexismus und Unterdrückung, das bedeutet aber nicht, dass es keine Gründe mehr für den Streik gibt. Da wir in der Schweiz streiken dürfen (und das sogar friedlich geschieht), gehen wir auf die Strassen aus Solidarität zu all den Frauen, die unterdrückt werden oder den Mut nicht haben, sich zu wehren.
Die Argumente des Lehrers bestätigen auch, dass der Sexismus in der Gesellschaft normalisiert ist. Oft werden Probleme wie die Sexualisierung des weiblichen Körpers in der Werbung und hohe Ansprüche an das Aussehen der Frau (wieder von der Werbung und den Medien eingetrichtert) übersehen. Beim Frauenstreik geht es nicht nur um gleichen Lohn und gleiche Rechte, sondern auch um den Umgang in der Gesellschaft. Indem die Frauen auf die Strassen gehen, unterstützen sie diejenigen, die keine Solidarität von ihren Mitmenschen erhalten, die nicht streiken dürfen, die sich nicht trauen, einen typischen “Männerjob” auszuprobieren, die aufgrund ihres Geschlechts belästigt wurden und werden, die sich dumme Sprüche anhören müssen, die ungenügend geschätzt werden. Der Frauenstreik ist nicht männerfeindlich, sondern unterstützt die Frauen, die Unterstützung benötigen. Und das kann man auch als Mann.
Auf der Website des Frauenstreiks und auf Flyern steht, auf welche Weise die Männer die Frauen unterstützen können. Dabei wird Wert darauf gelegt, dass sie ihre Solidarität am besten zeigen, wenn sie einer Frau das Streiken ermöglichen oder erleichtern. Sie sollen die Arbeitsschicht der Kollegin übernehmen, oder die Kinder heute auf eigene Faust beschäftigen, anstatt bei der Demonstration mitzulaufen. Natürlich sind Männer bei der Demonstration auch willkommen, doch lieber ist es, wenn sie im Hintergrund tätig sind – sei es beim Kochen für das gemeinsame Z’mittag oder sonstige Hilfe bei der Organisation.
In der PH stehen Bänke, Tische und Bücher bereit. Hier findet der Wikipedia Edit-a-thon statt. Den ganzen Nachmittag lang erstellen und bearbeiten hier Frauen Wikipedia-Beiträge über Kunstpädagoginnen und deren Konzepte. Diese Aktion setzt sich für mehr weibliche Wikipedia Autoren, mehr Wikipedia-Beiträge über Frauen und Frauen in der Kunst und in der Pädagogik ein.
Nächster Halt – Helvetiaplatz. Hier gibt es einen grossen Stand mit vielfältigem Essen. Auf einer Holzschachtel steht “Zahlsch soviel d magsch” und Männer verkaufen Getränke an einem Stand nebenan. Auf der Wiese macht sich eine Menschenmenge gemütlich. Es wird Musik gespielt, gelacht, gegessen und genossen. Einige Frauen tragen ein T-Shirt mit den Worten “no women – no news” drauf. Gerade vor mir sitzt so eine Gruppe. Sie bejahen meine Frage, ob sie denn in den Medien arbeiten. Sie sind von der NZZ und streiken heute, weil sie mehr Frauen in Führungspositionen sehen wollen. Eine von Ihnen erwähnt, dass viele Frauen nur Teilzeit arbeiten und deshalb bei der Arbeit zu wenig geschätzt werden und es oft vorkommt, dass ihnen ihr Verdienst nicht ausreichend zugeschrieben wird. Deshalb verlangen die Streikenden mehr Solidarität und Sichtbarkeit der Frauen, die in der Medienbranche tätig sind.
Nach einer kurzen Mahlzeit laufe ich zum Bezirksgefängnis; dort bilden wir eine Menschenkette rund um das Gebäude aus Solidarität zu den Gefangenen, die heute nicht streiken können. Aus der Ferne höre ich, wie die Menschenenge rhythmisch Parolen ruft, es nähert sich eine Demonstration. Diese verlangt „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ und das natürlich in- und ausserhalb der Schweiz. Kurz darauf laufen Jugendliche in Reihen durch die Strassen. Sie marschieren für eine Bildung ohne Sexismus, für eine diskriminierungsfreie Sprache, für das Bewusstsein, dass Geschlechter soziale Konstrukte sind und für Toleranz gegenüber vielfältigen Liebes- und Beziehungsnormen.
Die Demonstrationen sind multikulturell und vielsprachig. Auf Plakaten stehen Parolen wie „égalité, fraternité, femininité“ und auf Spanisch ist „Mujeres unidas jamás serán vencidas!” zu hören. Ich werde auch auf Englisch angesprochen, denn hier sind Leute aus aller Welt versammelt.
Ich lerne eine Judaistik-Studentin mit blau gefärbten Haaren kennen. Sie geniesst die Stimmung des Streiks und streikt auch für ihre Rechte. Sie gibt mir ein paar Kleber mit feministischen und antifaschistischen Parolen drauf und stellt mich ihren Kolleginnen vor, von denen die meisten auch studieren. Gemeinsam verbringen wir die Zeit bis zur grossen Demonstration bei der Tramhaltestelle Central. Wir diskutieren über die Luxuswaren-Steuer auf Tampons in den USA und die neuen pro-life Gesetzen in manchen Staaten. Wir können uns kaum vorstellen, so wenig Selbstbestimmung über unsere eigenen Körper zu haben.
Die Demonstration beginnt mit einer halbstündigen Verspätung, die Sonne prallt auf uns herab und mein Plakat mit der Aufschrift “the future is equal” dient mir nun als Sonnenschutz. Die Menschen überfüllen die Strassen, überall sehe ich Rosa und Violett. Die Menschenmenge geht anfangs sehr langsam voran, doch auf halbem weg beschleunigt sie ihr Tempo. Manche Frauen haben einen Wagen oder einen kleinen Traktor dabei, sie halten Kartonsilhouetten von Super-Frauen aus Comics in die Luft. Manche haben Lautsprecher und Mikrofone dabei, andere rufen Parolen, wieder andere Pfeifen durch die Gegend. Leute sehen aus den Fenstern und von der Brücke auf uns herab. Es herrscht eine heitere und ohrenbetäubende Aufbruchsstimmung. In der Menge erkenne ich ein Plakat: „Wir sind keine Minderheit“. Tatsächlich, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Wie kann es sein, dass es im Jahr 2019 noch Sexismus gibt? Wie kann es sein, dass die Hälfte der Menschheit noch heute dermassen unterdrückt wird? Für eine respekt- und verständnisvolle Gesellschaft überfluten wir die Strassen, denn wir sind keine Minderheit und gemeinsam sind wir stark.
2 Antworten zu «„Wieso Frauenstreik? Denen geht’s doch gut!“ – Wofür Frauen streiken»
Sehr treffend geschrieben, genau dafür habe ich schon 1991 am Frauenstreik teilgenommen und 2019 auch wieder. Nur ein kleines Grüppchen von ca. 200 Frauen und ein paar wenige Männer versammelten sich in Glarus. Ein Kanton bei dem bei vielen Männern und Frauen noch das typische Rollenbild von Männlein und Weiblein vorherrschet. Aber auch hier bewegt sich langsam etwas.
Die Unterdrückung der Frauen in der Schweiz ist ein blasses Phantom aus früheren Zeiten. Die angriffigen Parolen haben in der heutigen Gesellschft nur noch wenig Glaubwürdigkeit und Gültigkeit. Klar: jenen Mut machen, die die Gleichstellung noch nicht oder noch nicht ganz erreicht haben, ist sinnvoll. Diese Relativierung auf eine solche Minderheit lese ich hier im Artikel zum erstenmal. Ich bin froh darüber. Ich habe mich seit 46 Jahren für die Gleichstellung in meiner Familie, meinem Beruf und in der Gesellschaft engagiert zusammen mit meiner Ehefrau, mit der ich just heute 37 Jahre glücklich verheiratet bin. Ich habe am ersten Frauenstreik zusammen mit anderen Männern gerne Spaghetti gekocht für die streikenden Frauen. Ich habe die Kinderhüte, den Haushalt, das Arbeiten, die politische Arbeit etc. immer mit meiner Frau aufgeteilt. Ich kenne sehr viele Männer, die die Gleichstellung der Frau so mitgetragen haben. Wer Gleichstellung will, kann dies heute gut selber erreichen. Das Einfordern der Gleichstellung im eigenen Umfeld (eigene Familie, eigener Beruf, eigenes soziales Netz) ist matchentscheidend, nicht grossartige, abgebleichte Parolen in den gesellschaftlichen Äther hinaus.